Eine Schiffsmühle auf der Ilmenau ?

Foto des Flensburger Fotografen Wilhelm Dreesen im Jahre 1903 an der Ilmenau bei Bienenbüttel.

Der kundige Betrachter des Fotos wird auf dem ersten Blick eine Schiffsmühle in der Ilmenau wahrnehmen. Nimmt man zur näheren Identifizierung ein zeitlich passendes Kartenwerk zur Hand - z.B. die Preussische Landesaufnahme von 1898 - so findet man tatsächlich südöstlich von Bienenbüttel die Signatur eines Wasserrades in der Ilmenau, was die Vermutung einer Schiffsmühle  zu bestätigen scheint. Seltsam erscheint jedoch eine weitere Signatur in der kartografischen Darstellung, die eine „Seilbahn" von der Schiffsmühle zur nahe gelegenen Hönkenmühle zeigt. Des Rätsels Lösung bietet ein Bericht der Lüneburgschen Anzeigen vom 22. Dezember 1887, der die faszinierende Geschichte eines technischen Husarenrittes schildert, den Heinrich Friedrich Ferdinand Müller, seit 1876 Besitzer der Hönkenmühle, trotz schwerer Bedenken von „Experten" unternahm, um die betrieblichen Einbußen infolge zeitweiliger Wasserknappheit seiner Mühle mit dem kontinuierlichen Energieangebot des Flusses Ilmenau zu mildern. Doch lesen wir die Worte des zeitgenössischen Berichterstatters:

Lüneburgsche Anzeigen v. 22.12.1887:

Die „Seilbahn" zur Hönkenmühle nach der Preußischen
Landesaufnahme  v. 1898   

Alten-Medingen, 21.Debr.  ( Neue Mühlenanlage)

Die geringe Menge von atmosphärischen Niederschlägen, welche in den letzten 1 1/2 Jahren gefallen sind, haben eine so erhebliche Erniedrigung des Wasserstandes zur Folge gehabt, daß vielfach sonst gute Brunnen versagt haben und die Quellen mehr oder weniger versiegt sind. Die kleinen Bäche, welche  früher den größten Theil des Jahres Mühlen treiben konnten, haben jetzt nur für wenige Stunden  des Tages Wasser dazu, und in der Mitte zwischen den großen Handelsmühlen in Medingen und Lüneburg haben die Landleute Noth gehabt, ihr Korn gemahlen zu erhalten. Das hat nun den einsichtigen und tathkräftigen Besitzer der nahe Wichmannsburg gelegenen Hönckenmühle, der trotz seiner Wasser- und Windmühle seine Mahlkunden nicht befriedigen konnte, auf den Gedanken gebracht, das auf dieser Strecke nutzlos dahin strömende Ilmenauwasser zum Treiben seines Mühlwerks zu nutzen Mit Genehmigung des Kreistages in Uelzen ist dem Müller, nachdem kein als berechtigt anzuerkennender Widerspruch von Seiten der Anlieger, Fischer und der anderen  Mühlenbesitzer eingegangen war, durch lebhafte Befürwortung des Unternehmens durch den Herrn Gutsbesitzer Hagelberg - Solchtorf , gestattet, in der Ilmenau ein Wehr anzulegen. Neben demselben, das eine Stauhöhe von etwa 40 cm hat, befindet sich eine Freifluth zur Durchfahrt für die Fischer, und innerhalb des Wehres ist ein etwa 5 m breites und ebenso hohes Wasserrad mit 1/2 m tiefen gewaltigen Schaufeln angebracht, das sich ähnlich wie die Wasserräder auf den Schiffsmühlen bei Magdeburg und bei Mainz dreht. Die Kraft des Stromes wird von hier durch ein starkes Drahtseil nach der über 500 Schritt ( ca. 350 m) entfernten Hönckenmühle, deren Wasserkraft häufig versagt, geleitet und so das Gangwerk derselben getrieben. Den Bau hat der Müller selbst geleitet, und verschiedene Techniker, welche das Unternehmen während des Baues angesehen, bezweifelten die Ausführbarkeit. Seit 3 Tagen nun ist der Betrieb eröffnet und arbeitet so trefflich, daß alle Zweifler verstummt sind und ein Techniker aus Lüneburg, der sich die Einrichtung angesehen hat, die nun nutzbar gemachte Wasserkraft auf 60.000 M Werth schätzt.

Wenn man Wilhelm Dreesens Foto intensiv betrachtet, nimmt man am linken Bildrand vom reetgedeckten Getriebehaus ausgehend vor dem Baum deutlich die beiden Seile (mit weißen Pfeilen markiert) wahr,  die wohl endlos über Seilscheiben liefen und an 4 Stahlmasten im Abstand von ca. 60 m geführt wurden. - So erkennt man auf den zweiten, dritten und vierten Blick, wie sich aus der Fehlinterpretation eines historischen Fotos ein überaus interessantes Kapitel mühlentechnischer Entwicklung zur Transmission von Antriebskräften darstellt, das zumindest im Bereich der Lüneburger Heide, wenn nicht im gesamten norddeutschen Raum einmalig geblieben ist. Vielleicht am ehesten vergleichbar mit dem gut 100 Jahre älteren sogenannten Sonninschen Gestänge, mit dessen Hilfe die Rotationsenergie eines Wasserrades der Ratsmühle in Lüneburg zum Solepumpen in der 1,3 km entfernten Saline übertragen wurde.

Leider hatte Ferdinand Müllers interessante „Seilbahn" nur ein kurzes Leben. Er verstarb im Jahre 1901, sein Nachfolger konnte die Mühle nicht halten und sie geriet 1907 in Konkurs. Seither ist die Hönkenmühle nicht mehr in Betrieb gewesen und wird heute nach einigen Umbauten und Umnutzungen - u.a. als Geflügelzuchtanstalt - zu Wohnzwecken genutzt.

(Quellen: Zur Geschichte der Hönkenmühle v. Eberhard Behnke in: Heimatkalender für Stadt und Kreis Uelzen 1997; Archiv Landeszeitung für die Lüneburger Heide; Der Heidewanderer April 1991, S.56)